Das lustigste, überraschendste und ehrlicherweise auch angenehmste an der Onlineisierung der Lehre ist, dass sich das akademische Viertel der Alma Mater in eine pflichtbewusste, gar spießbürgerliche Pünktlichkeit nach Schweizer Uhrmeisterart verwandelt hat. Studierende erscheinen überpünktlich in der ZOOM-Übung, Seminarteilnehmer*innen testen vor Beginn Ton und Bild. Um es anders zu sagen: es fällt gar schrecklich unangenehm auf, wenn die Dozentin 20 Sekunden zu spät kommt…
Wenn es wiederum stimmt, was ein junger Freund über die Corona-Zeit Weises sagt, nämlich, dass sie wie eine Lupe sei, die über das Vorhandene gelegt wird und einfach nur klarer, nur deutlicher offenbart, was vorher schon darunter war, dann trifft das wohl auch für das Verhalten zumindest deutscher – oder nordeuropäischer – Teilnehmer*innen von Online-Kursen, Seminaren und Trainings zu. Oder anders gesagt: Wer beim Präsenzkurs immer zu spät kommt, scheint sich dafür irre überwinden zu müssen :-). Oder sind die Studierenden online deswegen so pünktlich, weil es einfacher ist, den Computer rechtzeitig anzumachen als die Bahn pünktlich zu kriegen? Weil der Weg vom Bett an den Schreibtisch so viel kürzer ist als bis in die Hochschule? Weil man sich nur oben rum etwas Ordentliches anziehen muss? Wer weiß das schon.
Auf jeden Fall ist eine, ist meine Lehre nach etlichen Monaten digitaler Lehrvermittlung: Es läuft besser als gedacht. Viel besser. Faszinierend, wie viel Fortschritt in der Performance geht, wenn statt Publikum nur der Computer zuhört und -sieht. Wenn eine stille, gruselig stille Desktopoberfläche besprochen werden muss, wenn der Applaus ein gelber Daumen ist und kein Geräusch. Die Zeit vergeht im digitalen genauso schnell – oder langsam – wie im analogen. Teamarbeit und Austausch funktionieren in kleinen Gruppen online wie im realen Arbeitsleben um den Tisch herum. Ab 15 wird es unübersichtlich. Ab 12 sprechen nur die, die immer sprechen. Unter 10 ist es optimal ganz ohne Unmute-Funktion, mit Audio und Video. Verblüffend, wie konzentriert die Menschen mitarbeiten, wie gut sie zuhören, wie sehr praktische Übungen sogar im Stehen funktionieren und sich sämtliche Skills der Selbstdarstellung verbessern – selbst wenn jeder ganz alleine in seinem Zimmerchen vor dem Laptop sitzt. Gesprächstrainings, Auftrittscoachings, Interview- und Krisenübungen in einem Videokonferenzformat durchzuführen, aufzuzeichnen, gemeinsam anzusehen und zu analysieren, geht hervorragend. Offensichtlich eine Frage der angewendeten Methode, des guten Inhalts und nicht der verwendeten Übertragungs-Technik. Ein guter Witz bleibt ein guter Witz. Ob im Flur erzählt oder via Skype. Dass sich Hierarchien auflösen, wie nun so oft über digitale Konferenzformate geschrieben wurde, trifft in den von mir skizzierten Lehrfällen ganz und gar nicht zu. Meine Erfahrung in der Rolle der Dozentin, Referentin oder Moderatorin digitaler Veranstaltungen ist mehr als eindeutig: Wie auf jeder Bühne muss einer, muss eine die Dompteur*in im Online-Zirkus sein. Struktur und Unterhaltung, Ermutigung und Analyse sind digital ebenso wichtig wie im Hörsaal, im Seminarraum oder im Fernsehstudio. Und genauso effektiv und nachhaltig. Nur den gemeinsamen Kaffee, das Glas Wein am Abend, die Chance einer Dienstreise mit all Ihren Annehmlichkeiten, das kann und wird ein Online-Kurs, ein noch so gutes Webinar, ein digitales Training nie ersetzen.